- KLASSENSTUFE
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Klasse 5-6
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- ⬣ ⎔ ⎔
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Benötigte Materialien
Arbeitsauftrag
„Schau dir die vorgegebene Zeichnung genau an. Überlege, was das noch alles sein könnte – außer einem (Pilz, Regenschirm, Haifisch, …). Du darfst alles erfinden, was dir einfällt. Schreibe deine Idee als Satz über das Bild. Dann vervollständige die Zeichnung mit deiner eigenen Bildidee. Achte darauf, dass du die vorhandenen Linien nicht übermalst, sondern sie in deine Zeichnung einbaust und weiterführst. Gestalte dein Bild so, dass man deine Idee gut erkennen kann. Nimm dir Zeit: Male Flächen sorgfältig aus, überlege dir, was im Hintergrund und im Vordergrund zu sehen sein könnte, und achte darauf, wie Dinge sich überlagern oder wo das Licht herkommt.“
Auf einen Blick
Was aussieht wie ein Ausmalbild, ist in Wahrheit ein Impuls für bildnerisches Denken. Ausgehend von fragmentarischen Zeichnungen entwickeln Kinder eigene Bildideen, hinterfragen Deutungsmuster und bringen ihre Vorstellungen in eine individuelle Bildsprache. Statt fertige Formen auszumalen, verwandeln die Lernenden vermeintlich triviale Fragmente in überraschende, fantasievolle Bildwelten – ein Zugang, der besonders auch jenen Kindern bildnerische Teilhabe ermöglicht, die sonst wenig Zutrauen in ihre zeichnerischen Fähigkeiten haben.
Step by Step
Zu Beginn steht ein stiller Impuls: eine einfache, fragmentarische Zeichnung wird gezeigt – etwa die halbe Kontur einer Banane. Eine Aufgabenstellung oder eine Erklärung zum Gezeigten gibt es nicht. Die Blicke der Kinder ruhen zunächst auf dem, was sichtbar ist. Die Kinder erahnen in der Regel meist sofort, worauf die Kunstlehrerin oder Kunstlehrer vermeintlich hinaus möchte und äußern, dass das Gezeigte eine Banane ist. Der Impuls scheint eindeutig lesbar.
Nun wird an die Tafel geschrieben: „Das ist keine Banane.“ Diese einfache Setzung verunsichert die scheinbar glasklare Deutung. Im Moment dieser Irritation beginnt ein offenes Denken: Die Wahrnehmung wird durchbrochen, eine neue Ebene der Vorstellung eröffnet sich. Es hat sich bewährt, das Blatt mit der unvollständigen Grafik gelegentlich zu drehen, sodass immer mehr Ideen geweckt werden, worum es sich handeln könnte.
Die Kinder beginnen zu spekulieren: Was könnte es sonst sein? Die Deutung öffnet sich und entfernt sich vom Naheliegenden. Nun werden alternative Lesarten gesammelt. Die Bilddeutung weicht von der bloßen Benennung ab. Das Bildfragment wird nicht länger als objektiv erkennbares Ding gelesen, sondern als Ausgangspunkt für eigene Bedeutungszuschreibungen. Der Bildraum wird gedanklich erweitert. In diesem Moment entstehen erste Ansätze bildnerischer Imagination – nicht als willkürliche Fantasie, sondern als ernstzunehmender Umgang mit offenen Zeichen.
Über die Bedeutung offener Bildimpulse für kindliches Denken und kreative Prozesse
In der kunstpädagogischen Praxis sind es oft die unscheinbaren, scheinbar „einfachen“ Aufgabenformate, die ein hohes schöpferisches Potenzial entfalten. Eine Kopiervorlage, auf der lediglich die Hälfte eines Gegenstandes zu sehen ist, lädt nicht zum bloßen Ausmalen ein, sondern eröffnet einen Raum für Umdeutung, Imagination und bildnerische Transformation.
1. Kreativität beginnt im Anderssehen
Solche Aufgaben ermöglichen es Kindern, sich von vordergründigen Deutungen zu lösen. Indem ein vertrautes Objekt dekonstruiert und offen präsentiert wird, entsteht ein Freiraum für neue Sinnbildungen. Die Vorstellungskraft wird aktiviert, wenn Kinder sich fragen: Was könnte das noch sein? Dieser Perspektivwechsel ist grundlegend für kreative Prozesse – nicht nur im künstlerischen Bereich, sondern auch im Denken insgesamt. In der Kreativitätsforschung sprechen wir hier von fluenter und flexibler Denkfähigkeit: die Fähigkeit, viele Ideen zu generieren und gewohnte Denkmuster zu verlassen.
2. Zwischen Fantasie und Form – eine Bildsprache entwickeln
Indem Kinder die Vorlage weiterzeichnen, treten sie in einen bildnerischen Dialog mit einem vorgegebenen Fragment. Sie sind gefordert, eigenständig Bildzusammenhänge zu entwerfen – auf der Grundlage eigener Vorstellungen, innerer Bilder und Assoziationen. Dies ist ein genuin bildnerischer Prozess, der die Fähigkeit stärkt, visuelle Gedanken zu formen. Es ist ein zentrales Ziel guten Kunstunterrichts, Kindern Räume zu eröffnen, in denen sie ihre eigene Bildsprache entdecken und entwickeln können.
3. Offene Aufgabenformate als didaktischer Schlüssel
Die hier beschriebene Aufgabe steht exemplarisch für ein offenes Aufgabenformat. Es ist nicht die Reproduktion eines vorgegebenen Bildes das Ziel, sondern die individuelle Aneignung und Weiterentwicklung. Kinder erleben sich als Gestalter*innen – ihre Ideen sind gefragt, nicht ihre „Richtigkeit“. Dies fördert Selbstwirksamkeit und ästhetisches Selbstvertrauen. In der kunstpädagogischen Didaktik stellen solche Formate eine Alternative zur herkömmlichen Anleitungsdidaktik dar und ermöglichen differenzierte Zugänge für heterogene Lerngruppen.
4. Bildnerisches Denken als Bildungsprozess
Wenn ein Kind sagt: „Das ist kein Pilz, das ist eine Mondstation!“, dann ist das mehr als eine Spielerei. Es ist ein Ausdruck von bildnerischem Denken – einem Denken in Bildern, Assoziationen und Bedeutungen. Kinder lernen spielerisch, dass Bilder veränderbar sind, dass Bedeutungen konstruiert werden, dass Kreativität auch bedeutet, sich etwas anderes vorstellen zu dürfen. Genau darin liegt das emanzipatorische Potenzial des Kunstunterrichts: Nicht die Welt abzubilden, wie sie ist, sondern Möglichkeiten zu erfinden, wie sie auch sein könnte.
5. Fazit
Die Förderung von Kreativität im Kunstunterricht erfordert keine spektakulären Mittel, sondern durchdachte didaktische Impulse, die Raum für Eigenständigkeit, Imagination und Interpretation lassen. Die hier vorgestellte Aufgabe ist ein Beispiel dafür, wie mit einfachen Mitteln ein hoher bildnerischer Erkenntnis- und Lernwert erzielt werden kann. Sie eröffnet Kindern nicht nur einen Zugang zum bildnerischen Gestalten, sondern auch zur Welt der Bedeutungen und zum eigenen Denken. Und genau darum geht es im guten Kunstunterricht.
Ausgehend von dieser gemeinsamen Vorerfahrung erfolgt der Übergang zur individuellen Gestaltung. Alle Kinder erhalten im Anschluss an den Einstieg eine neue Kopiervorlage – ein anderes Motiv als das zur Einführung gezeigte. Dabei arbeitet die ganze Klasse mit dem gleichen neuen Bildfragment. So entsteht eine gemeinsame Ausgangslage, aus der sich ganz unterschiedliche, individuelle Bildideen entwickeln. Optional kann ein Sichtschutz aufgestellt werden, um ein konzentriertes Arbeiten an der eigenen Bildidee zu ermöglichen. Wenn die Kinder in dieser Phase auf sich gestellt werden, lassen sie sich nicht von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern beeinflussen und können so eigene Bildideen entwickeln.
Zu Beginn steht nun das gedankliche Erkunden des Fragments: Was sehe ich? Was könnte daraus entstehen? Die Linie auf dem Papier wird nicht als Begrenzung verstanden, sondern als Ausgangspunkt für bildnerisches Weiterdenken. Erst wenn sich eine Vorstellung gefestigt hat, beginnt die zeichnerische Ausgestaltung. Zunächst kann dies durch Form geschehen, im weiteren Verlauf auch durch Farbe, Struktur oder Schrift. Die Satzstruktur „Das ist kein… Das ist ein…“ kann als sprachliche Rahmung genutzt werden, um den gedanklichen Transfer sichtbar zu machen.
Wichtig ist dabei, dass der Prozess nicht auf das Finden einer Idee begrenzt bleibt. Von Beginn an sollte deutlich gemacht werden, dass es nicht allein um den Einfall, sondern um dessen bildnerische Ausformulierung geht. Es geht darum, die Bildidee auszudifferenzieren, zu konkretisieren, in Bildräume zu übersetzen. Was ist das für ein Objekt, das hier entsteht? Wo befindet es sich? Ist es groß oder klein? Wie wirkt es? Welche Umgebung passt zu ihm?
Beim Umhergehen kann man Anregungen zur gestalterischen Umsetzung geben – etwa zur Flächengliederung, zu Überdeckungen, zur Anlage von Vorder- und Hintergründen. Hinweise auf deckende Farbaufträge, auf Staffelungen im Raum, auf Lichtverhältnisse oder Materialien können Kindern helfen, ihre Bildidee zu präzisieren und ihren Ausdruck zu stärken. Dabei bleibt die Eigenständigkeit des Bildprozesses gewahrt; die Impulse dienen nicht der Korrektur, sondern der Ermöglichung differenzierter Ausdrucksformen.
Zentral in dieser Phase ist das Vertrauen darauf, dass jedes Kind einen eigenen bildnerischen Zugang finden kann – unabhängig von einer zeichnerischen Technik. Der fragmentarische Ausgangspunkt wirkt dabei nicht begrenzend, sondern öffnend: Er fordert heraus, ohne zu überfordern. Gerade Kinder, die sich sonst im Kunstunterricht zurücknehmen, erleben hier eine Form der gestalterischen Selbstwirksamkeit, die an ihre innere Bildwelt anknüpft. Nicht die zeichnerische Perfektion steht bei diesem Vorhaben im Vordergrund, sondern das Sichtbarmachen eines eigenen Denkwegs.
Im letzten Drittel der Stunde werden die entstandenen Arbeiten gemeinsam betrachtet. Die Bilder werden nacheinander aufgedeckt, betrachtet, möglicherweise ergänzt durch den Satz, den das jeweilige Kind formuliert hat. Es entsteht ein Bildraum der Vielfalt – nicht durch Variation von Vorgaben, sondern durch individuelle Bedeutungszuschreibungen zu ein und derselben Ausgangsform. In unserem Fall hat es sich etabliert, dass die Klasse im Chor stets „Das ist kein (Pilz, Regenschirm, Haifisch, …)“ gemeinsam spricht (oder meist ruft =) und danach ein Kind raten oder vorlesen darf, was es stattdessen ist.
Die Stärke dieser Phase liegt in der Sichtbarmachung von Vielfalt: Bei gleicher Ausgangslage entstehen unterschiedlichste Lösungen, die nicht durch Vorgaben, sondern durch individuelle Deutungsprozesse geprägt sind. Die Gegenüberstellung zeigt, wie verschieden Kinder mit demselben Fragment umgehen – visuell, gedanklich, erzählerisch. Die ästhetische Eigenlogik der einzelnen Arbeit tritt ebenso hervor wie der dialogische Charakter des Gesamtarrangements.
Ein besonderer Reiz liegt in der Dramaturgie der Aufdeckung. Wenn ein Tablet oder iPad zur Verfügung steht, kann ein Kind die Rolle eines „Kamerakinds“ übernehmen. Der Bilderstapel wird abgefilmt, Blatt für Blatt wird aufgedeckt. Diese Form der Präsentation erzeugt große Aufmerksamkeit: Die Kinder staunen, lachen, freuen sich über die überraschenden Ideen ihrer Mitschüler*innen. Die Differenz wird zum ästhetischen Ereignis.
Eine Bewertung im klassischen Sinn findet nicht statt. Stattdessen ermöglicht die gemeinsame Betrachtung eine Würdigung der Unterschiedlichkeit – nicht im Vergleich, sondern in der Sichtbarmachung dessen, was durch Imagination entstehen kann. Der Impuls, der zu Beginn vermeintlich eindeutig war, hat sich vervielfacht – durch die Kinder selbst.
Den Abschluss bildet eine gemeinsame Reflexion. Was ist in dieser Stunde eigentlich passiert? Welche Ideen haben mich überrascht – bei mir selbst oder bei anderen? Wie kam ich zu meiner Idee? Was hat mich irritiert, was hat mich weitergebracht?
In dieser Phase wird deutlich: Bildnerisches Arbeiten ist nicht nur Tun, sondern auch Denken – nicht im Sinne von Problemlösen, sondern als Erkunden von Bedeutungen, von Möglichkeiten. Kinder erleben sich als Autor*innen von Bildern, die aus ihnen selbst hervorgehen und nicht aus der Reproduktion externer Vorgaben. Sie entwickeln in dieser Phase ein erstes Verständnis davon, dass Bilder mehr sind als Abbilder. Sie erkennen, dass ihr eigenes Denken eine zentrale Rolle im Entstehungsprozess spielt – nicht als Antwort auf eine Aufgabe, sondern als aktives Deuten, Erfinden, Transformieren.
Solche Prozesse entfalten, was mit kindlichen Bildkulturen gemeint ist: Kinder entwickeln visuelle Ausdrucksformen, die in Beziehung stehen zu ihrer inneren Vorstellungswelt, zu ihrem Wissen, zu ihrer Lebenswelt. Bilder entstehen nicht aus dem Nichts, sondern aus einem kulturellen und individuellen Resonanzraum – sie tragen Bedeutungen, die über die Linie hinausreichen.
Diese Stunde zeigt, wie viel Kraft in einem einfachen Fragment liegen kann. Was auf den ersten Blick wie ein banales Ausmalbild erscheint, wird zum Ausgangspunkt bildnerischen Denkens.
In diesen bildnerischen Handlungen offenbart sich das eigentliche didaktische Potenzial: Kinder werden nicht zu Produzent*innen funktionaler Aufgabenlösungen, sondern zu Autor*innen eigener visueller Weltzugänge. Im bildnerischen Prozess entfalten sich ästhetische Ausdrucksweisen. Die Aufgabe macht deutlich, dass Kunstunterricht zu einem Raum für ästhetische Selbstvergewisserung werden kann: ein Ort, an dem Kinder sich mit Bildern verständigen – mit sich selbst, mit anderen, mit der Welt. Ein Ort, an dem ihre eigenen Bildkulturen zur Entfaltung kommen.
MATERIALIEN DOWNLOAD & PRINT
Wenn du dieses Unterrichtsvorhaben in deinem Kunstunterricht durchführen willst, kannst du dir gerne unsere 20 Kopiervorlagen im PDF-Format herunterladen. So kannst du sofort loslegen.
Wir freuen uns sehr, wenn du dir mit dem Download eine Freude machen kannst und wenn du unsere Arbeit mit deiner Bestellung wertschätzt. Aber natürlich kannst du das Material auch selbst herstellen. Das ist völlig ok und ist in diesem Fall kein Hexenwerk. (Auch wenn unsere Vorlagen natürlich die schönsten auf dem Markt sind. =)
Über den Autor
Simon
Simon ist Kunstlehrer an einer Realschule in Baden-Württemberg. In seinem Klassenzimmer bemüht er sich, seinen Schülern authentische und aussagekräftige Erfahrungen zu bieten, die Imagination, Kreativität und Zusammenarbeit fördern und die Kinder und Jugendliche dazu herausfordern, Fähigkeiten zur Problemlösung und zum kritischen Denken zu entwickeln. Er versucht seinen Schülern einen sicheren Ort zu bieten, an dem sie sich frei ausdrücken und durch persönliches Erproben wachsen können.
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